Ein kleiner Spaziergang auf ruhigen Wegen des Grazer Zentralfriedhofs zieht zuerst manche Blicke, dann allerhand Gedanken in einen Sog historischer Reflexionen.
Der Grazer Zentralfriedhof hielte so manche Anregung für ein heiteres Beruferaten auf Vorrat
Aus heutiger Sicht mag es einem etwas schrullig erscheinen, dass Menschen sich via Grabstein mit solchen Details ihrer Nachwelt mitteilen: „Geflügelhändler und Hausbesitzer“, „Haus- und Realitätenbesitzer“, „Fabriks- und Brauereibesitzer“, „Inhaber der Apotheke in Fürstenfeld“ und so fort.
Derlei Nachrichten findet man bei einem Spaziergang auf dem Grazer Zentralfriedhof und mutmaßlich auch an vielen anderen Stätten, wo wir einander zaghaft versichern, dass dieses unser Ende vielleicht doch kein Ende ist
Ich habe eingangs die Grabinschriften von Menschen zitiert, welche in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts verstorben sind. Es waren also erst wenige Jahrzehnte seit dem Ende der „Erbuntertänigkeit“ (1848) vergangen, seit Adel und hoher Klerus einer neuen Ordnung des Staatswesens zustimmen mussten.
Davor lag jene „Gründerzeit“, in der ein aufstrebendes Bürgertum sich gegenüber jenen alten Eliten durchsetzte. Wer es also zu etwas gebracht hatte, wer wirtschaftlich reüssieren konnte, hatte mitunter noch wenig familiäre Tradition, um Stand und Selbstbewusstsein symbolisch auszudrücken. So vermute ich, es war ganz pragmatisch, das Greifbare zu symbolisieren und zum „Rangabzeichen“ zu erheben: Ein Weingut, eine Fabrik in Kalsdorf, alle Arten von Häusern und Geschäften, eben diverse „Realitäten“.
Auf der Suche nach einem kuriosen Herren
Vom Fabrikanten Johann Puch sind nicht viele Bildnisse erhalten. Eines davon ziert sein Grab
Ich hatte freilich einen bestimmten Grund, den einen oder anderen Weg auf dem Zentralfriedhof zu durchsuchen. Ich war auf der Suche nach einem kuriosen Herren. Dabei fiel mir noch ein anderes Bezugssystem auf, das sehr viel mit jener Ära, einer sprunghaft wachsenden Industrialisierung Europas, zu tun hat.
Einige Grabsteine nennen Funktionen wie „Oberinspektor der köngl. ung. Staatsbahnen“, „Werkmeister“, so manchen „Stud. techn.“, Ingenieur oder Gewerken. Ich war auf der Suche nach dem Grab eines vormaligen Keuschlerbuben. Er ist im Kindesalter Lehrling bei einem Müller geworden, erlernte schließlich das Schlosserhandwerk, näherte sich mit seiner Karriere zielstrebig der Landeshauptstadt Graz.
Obwohl er im Jahre 1914 verstarb, da war er jünger, als ich es heute bin, ziert sein Name noch heute Produkte, die Sie in Ihrem Alltag entdecken können. Als ethnischer Slowene hieß dieser Altösterreicher ursprünglich mit Vornamen Janez. Er war ein geschickter Fahrradmechaniker, ein smarter Geschäftsmann und ein selbstbewusster Sturschädel, wenn er sich von der Behörde unangemessen behandelt fühlte. Außerdem hatte er ein vorzügliches Händchen für Reklame.
Der Umstieg als Einstieg zum Aufstieg
Das legendäre „Puch-Schammerl“ mit dem markanten „Vogel“ auf der Nase ist eigentlich ein „Steyr-Puch 500, Mod. Fiat“. Aber so redet kein Mensch über diesen Klassiker.
Johann Puch gründete im Steirischen nicht nur eine Fahrradfabrik, sondern zwei, die beide wirtschaftlich erfolgreich waren. Er produzierte Motorräder, war ein Pionier des Automobilbaus, hatte sogar Flugzeugmotoren im Repertoire und überlebte in der öffentlichen Wahrnehmung als Namenspatron des „Puch-Schammerls“.
Der „Steyr-Puch 500“ aus dem Jahr 1957 wurde zu einem Stück steirischer Folklore. Er spielte real auf dem Automobilmarkt keine sehr bedeutende Rolle. Aber er war für viele Menschen das erste leistbare „richtige Automobil“. Und er war als Gebrauchtwagen auch für meine Generation noch ein properer „Einstiegswagen“.
Der Umstieg vom Moped, der Einstieg ins Auto, das sind Markierungen einer netten Idee vom Aufstieg gewesen. Schon im Aufkommen des Automobilismus wurden die störenden Novitäten als krachender und stinkender Affront von „Bessergestellten“ gegenüber „kleinen Leuten“ empfunden. Manchmal entzündete sich an unheimlichen Begegnungen ein Hass gegen Reiche. Man musste damals reich sein, um ein Auto kaufen und erhalten zu können. Da hat es in der ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bei Kontroversen auf offener Straße sogar Tote gegeben. Aber unterm Strich diese Geschichte kam heraus, dass (fast) alle eines haben möchten; ein Auto.
Die frühen Obsessions-Fabriken
Bis aus einem königlichen Privatvergnügen ein „Volkswagen“ für die Massenmobilisierung wurde, musste in Europa noch viel gesägt, geschraubt und gelötet werden.
Damit ist das Thema Massenmotorisierung angeschnitten, die in Amerika schon in den 1920er-Jahren vorankam, in Europa aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. So komme ich auf Fragen der Mobilitätsgeschichte, denn in diesen Zusammenhängen liegen Überlegungen zu enormen wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Konsequenzen jener Massenmotorisierung; nicht zu vergessen die kulturellen Folgen, die auch daran festgemacht sind.
Der Weg zu einem vorher nie gekannten Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten ist bei uns durch kein anderes Konsumgut derart repräsentiert wie durch das Automobil. Es ist nicht nur Fahrzeug, es ist auch ein hochrangiges Vehikel für Ideologie. Keine Maschine ist so sehr Projektionsfläche, zivile Waffe, „Sehnsuchtsmaschine“ und beliebig befüllbarer Platzhalter für auch skurrilste menschliche Obsessionen, wie das Automobil.
Die Lebensgeschichte von Johann Puch ist fast prototypisch. Wer mit handwerklichem Geschick, Ausdauer und Einfallsreichtum in dieser Epoche den fast grenzenlosen Hunger nach neuen Lösungen bedienen konnte, hatte auch eine Chance auf sozialen Aufstieg, der freilich breiteren Schichten vorerst verwehrt blieb.
Ich habe übrigens bestaunt, dass auf dem Grab von Johann Puch und seinen Nachkommen noch heute frische Blumen vorzufinden sind. Ich werde bei anderer Gelegenheit etwas mehr von diesem Mann und seinem Wirken erzählen.
Was immer sich an diesen Jahren als Ausdruck von Einfallsreichtum, Tüchtigkeit, auch Ingenieurskunst deuten und bewundern ließe, es führte in ganz kurzer Zeit an den Rand von unglaublichen Abgründen, mitten in die größte nur denkbare Katastrophe, den Ersten Weltkrieg, dessen Ungeist eigentlich erst viel später, mit der Niederlage der Nazi, zur Ruhe kam.
Es gibt ein brillantes Werk über jene Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Stefan Zweig hat in „Die Welt von gestern“ (Erinnerungen eines Europäers) mitreißend beschrieben, welche Kräfte zu einer erstaunlichen Blüte geführt haben, um schließlich alles, was gut gelungen war, im unsinnigen Ersten Weltkrieg zu versenken.
Längst vor der Seite 50 dieses opulenten Buches notiert Zweig über den später reichlich verklärten Kaiser Franz Joseph, er habe „in seinen achtzig Jahren nie ein Buch außer dem Armeeschematismus gelesen oder auch nur in die Hand genommen“.
Ich erlaube mir, das als einen kleinen Hinweis zu deuten, wie sehr uns an all diesen Zusammenhängen natürlich nicht nur das Wirtschaftliche und Technische interessieren sollte, es wäre auch der Kultur weit mehr Augenmerk zu widmen.
Lesen ist in Österreich nicht strafbar.
© Martin Krusche, Jahrgang 1956, freischaffender Künstler, Exponent von „kunst ost“